jungle.world - Stacheldraht soll die Lösung sein

2022-07-22 20:15:40 By : Mr. oscar jia

Den ganzen Kontinent im Blick. Einsatzzentrum von Frontex in Polen, März 2022

Anfang Juli auf der griechischen Insel Chios, nur wenige Kilometer vom türkischen Festland entfernt: Eine 24jährige Frau aus Somalia wird tot in Büschen gefunden, verhungert und verdurstet. Sie habe sich aus Angst, abgeschoben zu werden, in der Sommerhitze mehrere Tage vor der Polizei versteckt, teilten Verwandte der Verstorbenen Flüchtlingsorganisationen mit.

Menschen auf der Flucht müssen in Griechenland nicht nur gegen internationales Recht verstoßende sogenannte Pushbacks fürchten, sondern sogar, von der griechischen Polizei gezwungen zu werden, bei dieser illegalen Praxis mitzuwirken. Gerüchte darüber gab es schon lange, doch jüngst hat ein internationales Rechercheteam, an dem unter anderem der Spiegel beteiligt war, dokumentiert, wie griechische Polizisten festgenommene Flüchtlinge unter Druck setzten, damit sie andere Geflüchtete wieder zurück über die türkische Grenze drängten.

Für den Budgetzeitraum von 2021 bis 2027 plant die EU-Kommission eine Erhöhung der Ausgaben für »Migrations- und Grenzmanage­ment« auf 34,9 Milliarden Euro.

Außerdem finden im Meer zwischen Griechenland und der Türkei auch sogenannte Driftbacks statt; das heißt, die Geflüchteten werden auf See ohne ein manövrierbares Boot zurückgelassen, um zurück an die türkische Küste zu treiben. Zwischen März 2020 und März 2022 dokumentierte das Recherchenetzwerk Forensic Architecture 27 464 Fälle von Geflüchteten, die in Rettungsflößen in der Ägäis ausgesetzt und sich selbst überlassen wurden. In 26 Fällen seien Menschen von der griechischen Küstenwache einfach ins Meer geworfen worden. Das Recherchenetzwerk dokumentierte elf ertrunkene und vier vermisste Personen.

Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR sind alleine vergangenes Jahr über 3 000 Menschen auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken, das sind durchschnittlich acht Tote pro Tag. Ende Juni forderte die europäische Flüchtlingspolitik weitere 37 Todesopfer, diesmal auf dem Festland: Sie waren bei dem Versuch gestorben, die von marokkanischem Territorium umgebene spanische Exklave Melilla zu erreichen. Videos zeugen von brutaler Gewalt der Grenzbeamten beider Staaten gegen die Geflüchteten.

Fast täglich kommen neue Schreckensmeldungen von den europäischen Außengrenzen hinzu, und je häufiger sie werden, desto schneller schwindet das öffentliche Interesse. Wer erinnert sich noch an die Enthüllungen vom vergangenen Herbst, dass kroatische Grenzpolizisten mit Gewalt Flüchtlinge zurück über die Grenze nach Bosnien zwangen? Auch das »Massaker« von Melilla, wie Menschenrechtsorganisationen es nannten, ist drei Wochen später kaum noch Thema in den Medien.

Auch die Grenzregion zwischen Polen und Belarus findet keine öffentliche Aufmerksamkeit mehr. Sie war der Hotspot des vergangenen Herbsts und Winters, als Bilder von frierenden Kleinkindern, die in einem der letzten Urwälder Europas festsaßen, um die Welt gingen. Zwar hat die Anzahl nichtukrainischer Geflüchteter dort in den vergangenen Monaten deutlich abgenommen, doch noch immer ist die Situation von sys­tematischen Menschenrechtsverletzungen und Pushbacks geprägt, wie ein im Juni veröffentlichter Bericht von Human Rights Watch kritisierte. Mittlerweile gab die polnische Regierung die Fertigstellung seines 187 Kilometer langen und 5,5 Meter hohen, mit Stacheldraht versehenen Grenzwalls bekannt. Die gigantische Stahlwand reiht sich ein in weit über 1 000 Kilometer Zäune und Mauern, oft meterhoch und ausgestattet mit Wärmebildkameras, Bewegungsmeldern und Stacheldraht, die EU-Länder mittlerweile errichtet haben.

Anfang Juni trafen sich die Innenministerinnen der EU-Länder in Luxemburg, um über die gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik zu beraten. Bei dem Treffen ging es nicht um die Gewalt an den Grenzen, sondern um die Frage, wer für die zuständig ist, die es trotz allem lebend in die EU schaffen. Der Dublin-Verordnung zufolge muss der Staat, in dem eine Geflüchtete erstmals einen Fuß auf Boden der EU setzen, ihren Anspruch auf Asyl prüfen. Schon seit Jahren beklagen die Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenzen in Süd- und Osteuropa, dass sie durch diese Regelung mit der Flüchtlingsproblematik alleingelassen werden. Deshalb setzen sie alles daran, Asylsuchenden die Einreise so schwer wie möglich zu machen. Versuche, dieses System durch eine Verteilung der Ankommenden auf EU-Mitgliedstaaten zu ersetzen, scheiterten bislang.

In Luxemburg wurde nun ein freiwilliger »Solidaritätsmechanismus« vereinbart: Schutzsuchende, die übers Mittelmeer nach in die EU gelangen, sollen auf andere EU-Staaten umverteilt werden. Bisher hätten sich 13 Staaten zur Aufnahme bereit erklärt und zusammen mehr als 8 000 Plätze angeboten, gab EU-Innenkommissarin Ylva Johansson vergangene Woche am Rande des EU-Innenministertreffens in Prag bekannt. Länder, die an der Umverteilung nicht teilnehmen wollen, wie Polen, Ungarn oder Österreich, sollen mit Sach- oder Geldzuwendungen Unterstützung leisten.

Die deutsche Innenministerin Nancy Faeser (SPD) sprach von einem »wichtigen Fortschritt in der Migrationspolitik«. An der Problematik wird der ­Mechanismus vorläufig wenig ändern, denn die Zahl der angebotenen Aufnahmen ist viel zu gering: Der Grenzschutzagentur Frontex zufolge gab es alleine im ersten Halbjahr 2022 fast 115 000 »irreguläre Einreisen« in die EU. Auf dem Westbalkan, weiterhin die Hauptfluchtroute in die EU, verzeichnete die Behörde trotz all der Zäune, Pushbacks und systematischen Gewalt einen Anstieg um fast das dreifache gegenüber dem Vorjahreszeitraum, im östlichen Mittelmeer lag die Steigerung bei 125 Prozent.

Diese Zahlen liegen zwar immer noch deutlich unter jenen aus dem Jahr 2015, als viele Kriegsflüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan es in die EU schafften, doch aufgrund weltweiter Kriege und Krisen sowie des Klimawandels dürfte die Zahl der Ankommenden in den kommenden Jahren weiter steigen. Bereits jetzt verschärft die EU die staatlichen Kontrollmechanismen: Ebenfalls in Luxemburg wurde eine Reform der Datenbank Eurodac beschlossen, um innerhalb der EU und den mit ihr assoziierten Ländern die Überwachungsmöglichkeiten für Asylantragssteller und deren internationale Koordination auszubauen.

Dass es schon längst nicht mehr darum geht, Menschen auf der Flucht Schutz zu bieten, sondern die Grenzen vor diesen Menschen zu schützen, zeigte sich auch beim Nato-Gipfel Anfang Juli in Madrid, der nur wenige Tage nach der tödlichen Eskalation an der spanischen Südgrenze stattfand. Spanien hatte sich zuvor dafür eingesetzt, dass in das neue Strategiepapier des Verteidigungsbündnisses auch Mi­gration als »hybride Bedrohung« aufgenommen wird. Tatsächlich wird in dem Papier nun auch die »Instrumentalisierung von Migration« als »hybride Taktik« autoritärer Staaten erwähnt, die eine Bedrohung der Bündnisstaaten darstelle. In einem weiteren Punkt konnte sich Spanien jedoch nicht durchsetzen: Besonders die konservative spanische Opposition hatte gefordert, es solle explizit festgehalten werden, dass die Schutzgarantie der Nato auch die beiden spanischen Exklaven Melilla und Ceuta in Nordafrika umfasse. Im Strategiekonzept heißt es immerhin, dass die Nato »die Souveränität und territoriale Integrität aller Verbündeten bewahren« werde. »Eine groteske Konsequenz dieser Erweiterung«, schrieb der Sozialforscher Alexander Kern im Online-Magazin Geschichte der Gegenwart, »wäre das Auslösen des Nato-Bündnisfalls durch unbewaffnete Asylsuchende.«

Flüchtlinge als »Waffe« einer hybriden Kriegsführung gegen die EU darzustellen, der man auch militärisch begegnen müsse, war im Zuge des Grenzkonflikts zwischen Belarus auf der einen und Polen, Lettland und Litauen auf der anderen Seite im vergangenen Jahr populär geworden. Während Polen 15 000 Soldaten an die Grenze schickte und Ministerpräsident Mateusz Morawiecki versprach, alles zu tun, »um das Böse zu stoppen«, sprach EU-Kommis­sionspräsidentin Ursula von der Leyen von einem »hybriden Angriff, um die EU zu destabilisieren«.

Dass Staaten wie Marokko oder Belarus die Schutzsuchenden als Verhandlungsmasse missbrauchen, um politischen Druck auszuüben, ist nicht von der Hand zu weisen. Auch die Türkei hatte das im März 2020 nicht zum ersten Mal getan, als sie kurzzeitig Flüchtlingen die Weiterreise nach Griechenland erlaubte. Möglich ist diese Erpressung aber nur, weil die EU sich durch die Abschottungspolitik erpressbar macht und ihre Migrationspolitik von einem rassistischen und wohlstandschauvinistischen Sicherheitsdenken geprägt ist.

Statt als humanitäres Problem wird die Flüchtlingsfrage als Bedrohung behandelt. Für den Budgetzeitraum von 2021 bis 2027 plant die EU-Kommission eine Erhöhung der Ausgaben für »­Migrations- und Grenzmanagement« auf 34,9 Milliarden Euro, mehr als dreimal so viel wie im vorherigen Budgetzeitraum. Der Ausbau der Grenzschutzagentur Frontex soll trotz systematischer Menschenrechtsverletzungen, deren Vertuschung einer der Gründe für den Rücktritt des Frontex-Di­rektors Fabrice Leggeri im April war, ebenfalls vor­angehen: Bis zum Jahr 2027 soll sie über eine ständige Reserve von 10 000 Beamten und Beamtinnen und im Zeitraum von 2021 bis 2027 über einen ­Gesamtetat von 5,6 Milliarden Euro verfügen.

Hatten sich in der Vergangenheit vor allem osteuropäische Staaten wie Polen oder Ungarn als flüchtlingspolitische Hardliner hervorgetan, hat die EU deren Ziele mittlerweile zu großen Teilen übernommen. Das Beispiel Spaniens zeigt, dass es für die weitere Mili­tarisierung der Flüchtlingspolitik keine Rechten an der Regierung braucht. Dort ist es ein linkes Regierungsbündnis, das, wie in Ceuta geschehen, Panzer an die Grenze schickt. Es gibt kaum ein Thema, bei dem sich trotz aller Differenzen alle EU-Mitgliedsstaaten gerade so einig sind wie bei der Flüchtlingsabwehr.