Digital Natives, Julia und Vanessa, reisen ohne Handy durch die Schweiz

2022-06-24 20:28:21 By : Ms. janny hou

Die SBB-Mitarbeiterin, um die 60, fragt uns sichtlich verwundert: «Habt ihr kein Handy?» Wir schütteln den Kopf, schmunzeln und widmen uns wieder dem Ticketautomaten. Das Ziel ist klar. Wie wir dorthin kommen, nicht. Für uns, Julia (26) und Vanessa (19), soll es nach Bristen gehen. Ein Dorf, das rund 500 Einwohner hat und zur Gemeinde Silenen im Kanton Uri gehört. Was uns dorthin verschlägt? Ein Zeigefinger, der mit geschlossenen Augen auf einer Schweizer Karte platziert wurde und somit unsere Destination bestimmte.

Der untypische Reiseort ist aber nicht das einzig Besondere an unserem Ausflug. Wir, zwei Digital Natives, also aufgewachsen mit dem Smartphone in der Hand, sind ohne Telefon und Internet unterwegs. Für uns nahezu unvorstellbar. Das Handy ist unser Wecker, Portemonnaie und Kommunikationsmittel.

Und so stehen wir an einem Nachmittag zum ersten Mal seit langem am SBB-Schalter im Hauptbahnhof Zürich und kaufen ein Zugticket. Physisch. Am Schalter stehen die Reisenden Schlange, eine Mitarbeiterin verweist uns an den Automaten. «Habt ihr ein Halbtax?», will sie wissen. Wir kramen in unseren Taschen nach dem roten Kärtchen, das wir am Vorabend verzweifelt suchten. Benutzt haben wir es bisher noch nie. Es geht praktischer: hinterlegt auf unserem 6,5 Zoll grossen Gerät. Die Billetts allein reichen noch nicht, die Zugstrecke mit den genauen Abfahrtszeiten und Umsteigeorten druckt man uns beim Infozentrum aus.

Uns bleibt knapp eine Stunde, bis der InterRegio 46 fährt. Das Bezahlen mit Bargeld ist ungewohnt. Wir benutzen nur noch Twint, die App, mit der man kontaktlos zahlen kann. So merkten wir auch nicht, dass unsere EC-Karten abgelaufen waren, und mussten kurzfristig Bargeld ausleihen.

Wie machen wir Bilder? In sämtlichen Geschäften waren Einweg-Kameras ausverkauft, im Elektronikgeschäft empfiehlt man uns eine analoge Kamera mit Filmrollen. Mit Filmrollen hatten wir noch nie zu tun, deswegen packen wir zur Sicherheit noch die Polaroidkamera ein, die wir vor ein paar Jahren gekauft haben. Von Bekannten leihen wir eine VHS-Kamera aus. Aber die Batterien sind kaputt. Bis sie also läuft, dauert es eine Zeit. Uns wird klar, warum solche Videokameras kaum noch gebraucht werden: Sie sind schwer zu bedienen, und gesamthaft schleppen wir allerlei an technischem Material.

Wir steigen in unseren Zug und starten unseren zweitägigen Ausflug. «Was wirst du am meisten ohne Handy vermissen?», fragt Vanessa, die erst durch die ruhigen Minuten im Zug merkt, dass etwas fehlt. «Instagram», witzelt Julia. Vanessa antwortet: «Ohne Instagram kann ich gut leben. Aber ohne Musik und den Austausch mit meinen Engsten wird es schwierig.» Als würden Vanessas Wünsche erhört werden, setzt sich ein junger Mann neben uns. Aus seinen Kopfhörern dröhnt laute Musik. Julia widmet sich ihrem Buch. Vanessa entdeckt die Kurznews am Bildschirm im Zug. «Was hast du für eine Blutgruppe?», will Vanessa wissen. Julia schaut verdutzt und zuckt mit den Schultern. «Menschen mit Blutgruppe 0 werden am häufigsten von Mücken gestochen», liest Vanessa vor. Wir starren eine Weile auf den Bildschirm, bis die News sich wiederholen. «Sind wir eigentlich gerade am Schummeln?», fragt Vanessa. Wir haben keine Antwort und beschliessen, uns vom Bildschirm abzuwenden.

Der Zug fährt in Erstfeld ein und wir steigen aus. Eben hat es noch geregnet, die Sonne scheint weiss durch den bewölkten Himmel. Nebelschwaden liegen auf den bewaldeten Hängen, die den Ort säumen; das satte Dunkelgrün der nassen Bäume steht in starkem Kontrast zum gräulich grellen Tageslicht. Diese Stimmung hätten wir mit dem Handy in der Hand nicht so wahrgenommen. Wir überprüfen die Abfahrtszeiten auf der Bustafel mit den Zeiten auf unserem ausgedruckten Zettel. Unser Bus Nummer 412 kommt an, allerdings in der falschen Fahrtrichtung. Da wir diesen Tafeln und dem Stück Papier nicht ganz trauen, fragen wir beim Busfahrer nach, ob wir wirklich nicht bei ihm einsteigen müssen. Im richtigen Bus geht es nach Amsteg wo wir erneut umsteigen müssen: zwanzig Minuten Wartezeit. Julia: «Warten wir eigentlich immer so viel, also auch, wenn wir mit Handy reisen?»

Vanessa: «Ich glaube nicht. Wenn, dann kommt mir das jeweils deutlich kürzer vor.»

Julia: «Wir können nicht mal googeln, ob es hier in der Nähe ein Café gibt.»

Vanessa: «Ich schaue mal, wie spät es ist.» Sie läuft die Strasse hinauf, um einen Blick auf die Uhr auf dem Kirchturm zu erhaschen: «Noch fünfzehn Minuten.» Da wir beide keine analogen Uhren haben, sind wir auf öffentliche Uhren angewiesen.

Der Bus kommt etwas früher, wir flüchten dankbar vor dem Nieselregen ins Businnere. Da wir immer noch nichts über Bristen wissen, fragen wir den Busfahrer: Gibts dort Hotels? Gaststätten? Irgendwas? Er lacht: «Da gibt es nichts. Es ist auch keine Reise wert.» Schade, konnten wir das vorab nicht googeln. Aber, was macht denn eine Reise wert? Wenn sie online möglichst gut inszeniert werden kann? Im Spiegel über dem Busfahrersitz sehen wir, wie der Fahrer sein iPad zückt: Vermutlich googelt er, was man denn in Bristen alles machen kann. Als wir das Dorf erreichen, verstehen wir: Hier gibt es tatsächlich kein Hotel. Aber, wir haben unser Ziel erreicht! Der Busfahrer ist hilfsbereit, möchte uns helfen, einen Ort für die Übernachtung zu finden, und schlägt das Nachbardorf Intschi vor. Dort gäbe es eine tolle Gaststätte mit den besten Cordon bleus. Wieder müssen wir warten: Diesmal eine halbe Stunde, bis der Bus dieselbe Strecke zurück nach Amsteg fährt. Drei Damen steigen ein. Wieder kommen wir ins Gespräch, was vermutlich nicht passiert wäre, wären wir auf unseren digitalen Bildschirmen abgelenkt gewesen.

Nachdem wir gefühlt das halbe Dorf kennengelernt haben – mit Busfahrern, Spaziergängern, Passantinnen sprachen –, erreichen wir Intschi. Vor der Gaststätte ein Schild: freie Zimmer.

Kein Handy zu haben, macht es für einmal leichter: Wir können keine alternativen Übernachtungsmöglichkeiten in der Umgebung im Internet suchen und ersparen uns somit eine Entscheidung. Hier bleiben wir.

Etwas mehr Auswahl zum Cordon bleu wünschen wir uns aber doch fürs Abendessen und fragen die Wirtin: «Gibt es im Nachbardorf Göschenen Restaurants?»

Wirtin: «Ja, es gibt zwei Restaurants, dort gibts Essen und Trinken.» Wir: «Was genau für Essen ist das denn?» Wirtin mit leicht gereiztem Unterton: «Na, Essen und Trinken eben.» Wir: «Wie sieht es denn in Amsteg aus?» Wirtin: «Dort hat es nicht wirklich viel. Aber in Erstfeld gibt es auch Essen und Trinken.»

Wir beschliessen, nicht weiter nachzufragen und nach Erstfeld zu fahren: Dort würden wir bestimmt die grösste Auswahl haben. Zu unserer Überraschung finden wir sogar ein mexikanisches Restaurant. Die Freude ist umso grösser, da wir nicht damit gerechnet hatten. Im Restaurant laufen Balladen aus den 80ern – endlich wieder Musik in den Ohren. Die Kellnerinnen geben uns Ausflugstipps für den folgenden Tag und sehen uns irritiert an, als wir sie nach den Busabfahrtszeiten zurück nach Intschi fragen: «Habt ihr denn kein Handy?» Auf dem Rückweg hören wir wieder Musik, die aus dem Radio des Busfahrers kommt.

Der nächste Morgen: kein Handy, kein Wecker. Wir lassen uns von der aufgehenden Sonne wecken. Als wir uns auf den Weg zum Frühstück machen, haben wir keine Ahnung, wie spät es ist; ob wir die Frühstückszeit gar verpasst haben? Vanessas Zeitgefühl ist gut: Sie liegt mir ihrer Schätzung bloss fünf Minuten daneben.

Wir entscheiden uns, die Gondel neben der Gaststätte zum Arnisee zu nehmen.

Oben angekommen, spazieren wir um den See. Das Wasser ist klar, die Bäume spiegeln sich auf der glatten Oberfläche. Die grossen Berge, die uns umgeben, strahlen eine Ruhe und Beständigkeit aus. In der Regel würden wir gleich unsere Handys zücken, um die Bergkulisse zu fotografieren und die Stimmung einzufangen. Doch wir wissen beide, dass das ohnehin nicht möglich wäre, und geniessen das Hiersein umso mehr.

Mittlerweile ist unsere erste Filmrolle der Kamera voll. Das Problem bei Mehrwegkameras: Man muss die Rollen selbst wechseln. Und wir wissen nicht, wie das funktioniert. Wir beschliessen daher, ins nächst grosse Dorf zu fahren, nach Altdorf. Grössere Geschäfte haben dort über den Mittag geschlossen – ausser ein Kiosk. Das trifft sich gut. Wir brauchen Postkarten. Schliesslich haben wir unserer Familie bisher kein Lebenszeichen gegeben. Inzwischen regnet es in Strömen. Wir eilen zur Kasse und sprinten in ein Restaurant. Bis unsere Portion Rösti kommt, schreiben wir unsere analogen Grüsse. Für einen kurzen Moment fühlt es sich an wie das Verfassen einer Instagram-Bildunterschrift. Nur altmodischer. Und mit nur einem einzigen Versuch.

Es ist halb zwei. Die Läden öffnen ihre Türen wieder. Aber es gibt kein Fotogeschäft. Stattdessen finden wir ein Elektronikgeschäft. Der Verkäufer wagt sich an die Kamera und kurbelt am Hebel. «Etwas klemmt», sagt er. Wir belassen es bei den 36 Fotos, die wir knipsten. Immerhin hilft uns der Verkäufer bei der Suche nach der Post. Geradeaus und dann rechts.

Wir haben Lust auf etwas Süsses. Um das beste Lokal in der Umgebung zu finden, fragen wir normalerweise Tripadvisor, jetzt fragen wir einen Passanten. Er empfiehlt eine Confiserie, die ganz in der Nähe ist. Wir bestellen uns Glacé und blättern durch die Klatschheftli, die aufliegen.

Etwas, das wir nicht mehr getan haben, seit wir aufgehört haben, «Bravo» zu lesen. Wir erzählen uns Anekdoten, die häufig mit «Ich würde dir ja ein Bild zeigen, aber ich hab kein Handy» enden. Und trotzdem: Das Smartphone fehlt uns in diesem Moment überhaupt nicht. Wir fragen uns, wie spät es ist. Wieder überrascht uns unser gutes Zeitgefühl. Den Bus haben wir aber knapp verpasst. Warten ist wieder angesagt. Rund eine Stunde später sitzen wir im Zug nach Hause. Wir belauschen einen Mann, der eine hitzige Diskussion am Telefon führt, und einen anderen in einem scheinbar wichtigen Zoom-Call. Bald langweilen uns die Gespräche, und wir versinken in unsere Bücher. Ungefähr drei Kapitel später fahren wir am Zürcher Hauptbahnhof ein. Wie viele Nachrichten und Anrufe wir wohl verpasst haben? «Worauf freust du dich jetzt am meisten?», fragt Vanessa. Julia lacht und sagt: «Ehrlich gesagt will ich einfach kurz meine Nachrichten beantworten, durch Instagram scrollen und dann mein Handy wieder ausschalten.»

Vanessa will das Handy nicht so schnell weglegen, trotzdem hat sie gemerkt, dass Zeit ohne Handy zwischendurch guttut. In einem Punkt sind wir uns einig: Das Smartphone ist praktisch und spart Zeit.