Ukraine-Krieg: Autobauer helfen Kabelbaumlieferanten

2022-08-20 00:24:32 By : Mr. oscar jia

Das Verlegen der Kabelbäume ist einer der ersten Arbeitsschritte beim Zusammenbauen eines Autos. Fehlen die wichtigen Verbindungselemente, steht meist die Produktion still.

Das Verlegen der Kabelbäume ist einer der ersten Arbeitsschritte beim Zusammenbauen eines Autos. Fehlen die wichtigen Verbindungselemente, steht meist die Produktion still.

München, Frankfurt, Düsseldorf Kurzarbeit, stillstehende Bänder, gestrichene Schichten: Weil wichtige Komponenten aus der Ukraine fehlen, müssen viele Autobauer ihre Produktion drastisch drosseln. Die Lage ist kritisch. Längst sind Teile der Lieferkette infolge des russischen Angriffskriegs gerissen. Es mangelt vor allem an Kabelbäumen.

Der Nürnberger Bordnetzanbieter Leoni, der an zwei Standorten in der Ukraine aktiv ist, warnte seine Aktionäre am Montag vor schrumpfenden Umsätzen und Gewinnen. Um Ausfälle zu kompensieren, prüft der Vorstand des Konzerns zudem die „Möglichkeit der Duplizierung von Produktionsvolumina“. Auch Leoni-Konkurrenten haben damit begonnen, die Fertigung zu verlagern.

Doch die Verlagerung ist aufwendig und kostspielig. Allein schultern können und wollen viele Bordnetzlieferanten diese Ausgaben nicht. Sie berufen sich vertraglich auf „höhere Gewalt“ und wollen die Kosten weiter‧geben, verlautet aus Branchenkreisen. Die Einkäufer bei großen Autobauern wie Volkswagen oder Mercedes-Benz zeigen sich ungewohnt verständnisvoll. Man sei dazu bereit, die Lasten des Ukrainekriegs gemeinsam mit den Zulieferern zu tragen, bestätigten dem Handelsblatt mehrere Insider.

Dabei geht es nicht nur um finanzielle Hilfen, erzählt ein Beteiligter. Die Transportwege in der Westukraine sind überlastet, Arbeitskräfte sind knapp. „Wir haben Dutzende Fachkräfte losgeschickt, um Maschinen von Lieferanten zu verpacken, zu versenden und an neuer Stelle wieder aufzubauen.“ Offiziell wollen sich die Unternehmen dazu nicht äußern – die Verlagerung ist auch politisch heikel, die ukrainischen Behörden müssen die Genehmigungen erteilen.

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Klar ist aber: In Zeiten der Not rückt die Autoindustrie enger zusammen. Mehrmals täglich konferieren die Krisenstäbe der Fahrzeughersteller und Zulieferer. Die Diskussionen verliefen in einer konstruktiven Atmosphäre. Für die Autoindustrie ist die Situation brenzlig. Der Kabelbaum ist eine der ersten Komponenten, die in jede Rohkarosse integriert werden. Das oft 70 Kilogramm schwere Geflecht aus einzelnen Strängen und Steckern ist die Lebensader aller Elektroniksysteme. Ohne dieses Bordnetz läuft kein Auto vom Band.

Fehlt es den Konzernen so wie jetzt an Kabelbäumen, muss vielfach gleich die Produktion von kompletten Fabriken gestoppt werden. Bei BMW stehen beispielsweise die beiden wichtigsten deutschen Produktionsstandorte München und Dingolfing seit dem 7. März still. Für beide Werke ist im Laufe dieser Woche ein „gestaffelter Hochlauf“ vorgesehen, ab dem 21. März soll wieder regulär produziert werden.

In München steht damit auch die Produktion des Elektroautos „i4“; in Dingolfing kann der „iX“ nicht weitergebaut werden, nach beiden Modellen besteht eine hohe Nachfrage. „Wir sind weiterhin in intensiven Gesprächen mit unseren Lieferanten“, heißt es bei BMW. „Zusammen mit ihnen bewerten wir die Situation kontinuierlich und definieren Maßnahmen, um die Produktion bestmöglich abzusichern und damit die weiterhin hohe Kundennachfrage bedienen zu können.“

Der Rivale Mercedes hat seine Schichtpläne in Sindelfingen angepasst. Hier laufen luxuriöse Limousinen wie E-Klasse, S-Klasse und EQS vom Band. Der Stuttgarter Nachbar Porsche muss derweil die Produktion seines Elektrobestsellers Taycan vorübergehend aussetzen. Und bei VW stehen noch bis mindestens Ende dieser Woche die Bänder im Stammwerk in Wolfsburg still.

Die Produktionsunterbrechungen in der Branche dürften sich in den kommenden Wochen sogar „noch verstärken“, glaubt Frank Biller, Analyst bei der LBBW. Der Grund: Bordnetzhersteller wie Leoni, SEBN, Prettl, Kromberg & Schubert, Aptiv, Kostal, Nexans, Forschner oder Yazaki bedienen aus der Ukraine heraus nahezu alle Fahrzeughersteller, keineswegs nur die deutschen.

Im schlimmsten Fall könnte in den kommenden Wochen wegen fehlender Kabelbäume die Produktion von rund 650.000 Autos in Europa ausfallen, glaubt Biller. Die Deutsche Bank rechnet sogar damit, dass bei einem völligen Versorgungsstopp aus der Ukraine bis zu 1,5 Millionen Fahrzeuge zum Halbjahr nicht produziert werden dürften.

Die Ukraine ist einer der wichtigsten Standorte zur Fertigung von Kabelbäumen in Europa. Der Grund: Für eine Arbeitsstunde samt Lohnnebenkosten fallen hier im Schnitt laut einer Analyse des CAR-Instituts lediglich drei Euro an. Zum Vergleich: In Deutschland müssen die Autokonzerne mit 54 Euro pro Arbeitsstunde kalkulieren.

Bei hochautomatisierten Prozessen fällt diese Lohndifferenz nicht so stark ins Gewicht. Aber die Produktion von Kabelbäumen erfolgt oft noch in Handarbeit, der Anteil manueller Tätigkeiten liegt bei mehr als 30 Prozent. Die Beschäftigten fädeln Kabel, Litzen, Stecker und Schläuche an einem Nagelbrett zusammen. CAR-Direktor Ferdinand Dudenhöffer nennt sie die „Teppichknüpfer der Autoindustrie“. Als Hilfsmittel nutzen sie lediglich Schneidemaschinen, Schweißautomaten oder Prüfgeräte.

Trotz der geringen Produktionskomplexität wird es bis zu sechs Monate dauern, bis die Bordnetzhersteller die in der Ukraine weggebrochenen Kapazitäten in anderen Ländern wie Rumänien, Bulgarien, Serbien, Tunesien oder der Türkei wieder aufgebaut haben. Der Autoindustrie stehen bittere Wochen bevor. Über die Verteilung der Kosten entlang der gesamten Wertschöpfungskette versucht die Industrie nun zumindest die Ausfälle so gut wie möglich abzufedern.

So baut etwa Volkswagen zusammen mit Zulieferern eine Parallelproduktion für die ausgefallenen ukrainischen Standorte auf, vor allem in Nordafrika. Ein Teil der Fabriken in der Ukraine arbeitet noch, zumeist allerdings mit geringerer Kapazität. Der VW-Konzern will die ukrainischen Werke damit im Notfall komplett ersetzen, sollte die Fertigung im kriegsgeschüttelten Land völlig stillstehen.

„Wir stellen uns auf einen Totalausfall ein“, sagte VW-Konzernchef Herbert Diess am Dienstag in Wolfsburg. Dass die neuen Anlagen in Nordafrika bei einer Beruhigung der Lage in der Ukraine vielleicht doch nicht gebraucht werden, nimmt Volkswagen dabei in Kauf. Sollte die Fertigung in der Ukraine nicht binnen drei bis vier Wochen durch andere Länder Osteuropas und in Nordafrika wettgemacht werden, müsste Volkswagen seine Geschäftsprognose für das laufende Jahr überarbeiten, ergänzte Diess.

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