Ex-DDR-Flüchtling wagt Rückkehr an ehemalige Grenze - WELT

2021-12-13 09:55:05 By : Mr. Jack Jia

Vom Ostseestrand am Priwall bis zum Vogtland im Südwesten. Exakt 1393 Kilometer lang, bis zu 200 Meter breit zog sich der Eiserne Vorhang durch das geteilte Deutschland. Metallgitterzäune (1265 Kilometer), Wachtürme (578), Stacheldraht, Erdbunker, Grenzpfeiler, Grenzsteine, Selbstfeuerungssysteme – und 1,3 Millionen Landminen.

Die Ostseite der innerdeutschen Grenze wurde massiv gesichert und forderte Hunderte von Menschenleben. Trotzdem wagten DDR-Bürger immer wieder die riskante Flucht. Wie Mario Goldstein aus dem Vogtland. Er scheiterte zweimal und wurde schließlich aus der Stasi-Haft freigekauft.

Erst spät stellte er sich seiner eigenen Vergangenheit – als „Wanderer auf Mission“. Jahrzehntelang mied er den ehemaligen Grenzstreifen, zu schmerzlich waren die Erinnerungen. Auf der Flucht vor dem eigenen Lebenslauf. Goldstein zeigt seine Begegnungen entlang des Grenzstreifens in dem beeindruckenden neuen Bildband „Abenteuer Grünes Band“.

Mit Rucksack ging Mario Goldstein, begleitet von seinem weißen Schäferhund Sunny, 100 Tage lang den noch heute sichtbaren Konvoiweg, auf dem einst bis zu 44.000 bewaffnete Soldaten Tag und Nacht patrouillierten und dafür sorgten, dass das Schussfeld frei blieb . Goldstein wanderte auf diesen zweireihigen Lochbetonplatten, lagerte auf dem ehemaligen Kontrollstreifen, der einmal täglich geharkt wurde, um Spuren von Spuren und Fluchtversuchen zu erkennen.

Wo heute seltene Orchideen wie Frauenschuh wachsen und Braunkehlchen, Eisvogel und Schwarzstorch nach Nahrung suchen, durfte vielerorts nicht einmal ein Grashalm wachsen.

Goldstein: "Paradoxerweise entstand in diesem streng bewachten Streifen ein Schatz an Biodiversität." Heute ist der Todesstreifen zur Lebensader geworden: Weil der Mensch ausgesperrt war, hat die Natur ihren eigenen Weg geschaffen – das Grüne Band. Heide, Wälder und Moore, Orchideenwiesen, Bäche und Binnendünen.

87 Prozent des Grünen Bandes sind naturnah, inzwischen haben zwei Bundesländer, Thüringen und Sachsen-Anhalt, ihren Anteil am Grünen Band als „nationales Naturdenkmal“ streng geschützt. „Das Grüne Band ist ein verbindendes Element für Mensch und Natur“, sagt Hubert Weiger, Vorsitzender des Bundes für Umwelt und Naturschutz und Mitinitiator des Grünen Bandes.

Dennoch gibt es auf dem Grünen Band auf 170 Kilometern große Lücken. Allein rund 450 Straßen durchqueren das Grüne Band; Autobahnen kreuzen sich zwölf Mal. Rund zwölf Prozent der Fläche sind laut BUND zerstört, vor allem durch Gewerbeflächen, Industrie und intensive Landwirtschaft. Deshalb kauft der BUND weiterhin Grundstücke aus privater Hand.

Für Mario Goldstein war das Grüne Band auch eine persönliche Herausforderung. Er besuchte Grenzmuseen und erfuhr, dass das unüberwindbare DDR-Zaunmaterial, an dem seine Flucht scheiterte, in Salzgitter im Westen hergestellt wurde. Er sprach mit ehemaligen Grenzsoldaten, aber auch mit den Angehörigen derer, die bei einem Fluchtversuch erschossen wurden.

Sein Resümee zum Kolonnenweg: "Das monotone Geräusch der Stockspitze auf dem Beton ... öffnet Schubladen, die seit Ewigkeiten verschlossen schienen."

Mario Goldstein: "Abenteuer Grünes Band", Knesebeck, 288 Seiten mit 331 Farbabbildungen, 35 Euro

Jahrelang verhinderte die Berliner Mauer, dass Menschen aus der DDR in die BRD gelangen konnten. WELT-Redakteurin Daniela Will gibt einen Überblick, wie die Mauer heute laufen würde.

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